tillich (epigonal) hat folgendes geschrieben: | ||
Stimmt natürlich. Bloß haben wir dann eben nicht mehr die "Mitgestaltung aller Menschen an Allem, wovon sie selbst betroffen und woran sie interessiert sind", wie es Skeptiker formulierte und wogegen ich Skepsis anmeldete, sondern die Mitgestaltung von Repräsentanten der Menschen an dem, was die Menschen angeht. Falls ich die Formulierung zu wörtlich genommen haben sollte: Dann wäre zu begründen, warum diese Form der Repräsentation besser sein sollte als die über Parlamente. Ich wäre tatsächlich interessiert, da ich mich damit wenig beschäftigt habe. Spontan hätte ich aber verschiedene Bedenken: a) Wenn die Räte nach verschiedenen Lebensbereichen organisiert sind - zB Wohnort, Arbeitsplatz, öffentliche Interessen wie Bildung, Gesundheit Umweltschutz etc. -, wie verhindert man dann, dass manche Leute, die in mehreren dieser Bereiche involviert sind, stärkere Entscheidungsmacht haben als andere? b) Wenn es nach freiwilliger Beteiligung geht - gäbe es nicht das Problem, dass man allein durch Sitzfleisch und Zeiteinsatz in verschiedenen Gremien mehr Einfluss bekommt als diejenigen, die sich anderweitig engagieren? c) Wie sorgt man dafür, dass bei einem System aufeinander aufbauender Räte die politischen Entscheidungsprozesse transparent bleiben? d) Wie vermeidet man zB, dass die höheren Räte, die theoretisch von den niedrigeren abhängig sind, umgekehrt diese dominieren, indem sie ihre weitergehenden Entscheidungsbefugnisse als Druckmittel benutzen? (Die Basisorganisationen, die nicht die gewünschten Repräsentanten wählen, könnten Nachteile zu gewärtigen haben; höhere Räte könnten Basisorganisationen gegeneinander ausspielen; u.Ä.) e) Wie vermeidet man, dass eine politische Organisation das Rätesystem kapert, indem sie zB die vorigen Punkte ausnutzt, also etwa hauptamtliche Funktionäre schickt, die nicht bezahlte Bürger dominieren können, systematisch Machtverflechtungen zwischen ihren Mitgliedern auf verschiedenen Ebenen schafft o.Ä.? |
vrolijke hat folgendes geschrieben: |
Wenn man das versucht zu verhindern, ist es nicht mehr demokratisch. |
jdf hat folgendes geschrieben: |
Sind Bürgerräte ein Schritt hin zur weiteren Demokratisierung der BRD oder ein Schritt von der Demokratisierung weg? |
Zitat: |
"UVW" schreibt:
Kein Zufall, dass Schäuble die Sache unterstützt. _Der_ Machtpolitiker schlechthin, der Ewigkeiten die Marschroute in Europa betont undemokratisch aus der zweiten Reihe vorgegeben hat, weiß a) dass der Lack der Demokratiesimulationen im In- und Ausland ziemlich ab ist, b) dass der Druck wegen der immer dreisteren Hinterzimmerpolitik aus mehreren Richtungen größer wird und c) dass diese sog. "Bürgerräte" ein Mitspracherecht nur vortäuschen und damit ein wunderbares Alibi darstellen, weil sie die bestehenden Machtverhältnisse unangetastet lassen. In dieser Form also: nice try, Politkaste. Wenn ihr mal einen ernstgemeinten Vorschlag zum Thema habt, sagt Bescheid. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ "URANUS" schreibt: "Nun also „Bürgerräte“ – Michael Wilk dazu: „Sie heißen Schlichtung, Mediation, Runde Tische, Bürgerdialog, Konsensforum, Dialogtag und so fort. Einerlei, welch freundliche Begriffe gewählt werden, das ihnen gemeinsame Merkmal ist, dass BürgerInnen- und Protestbewegungen in Entscheidungsprozesse von umstrittenen Bauvorhaben und politischen Plänen mithineingezogen werden – ohne etwas mitentscheiden zu können.“ – Michael Wilk, im Vorwort zu: Michael Wilk, Bernd Sahler (Hrsg.): „Strategische Einbindung – Von Mediationen, Schlichtungen, runden Tischen … und wie Protestbewegungen manipuliert werden – Beiträge wider die Beteiligung“, Verlag Edition AV, Februar 2014" In dem lesenswerten Buch erläutert Michael Wilk die Herrschaftsstrategien - zu denen er auch solche Bürger*innenräte zählt - moderner Demokratien. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ "Budzylein" schreibt: Genau das sind "Bürgerräte": Eine Herrschaftsstrategie. Man trommelt ein paar Leute zusammen, lässt sie unter fachlicher "Moderation" Positionen verlautbaren, die zufällig im Wesentlichen der Regierungslinie - oder dem "Konsens der Demokraten" entsprechen, und schon hat der Staat seiner Politik vermeintlich basisdemokratische Weihen verliehen. |
Zitat: |
Die Bürgerräte waren Ausschüsse und Komitees, deren Zweck zunächst die Sammlung der durch die revolutionäre Krise vorübergehend an den Rand gedrängten bürgerlichen Politiker und sonstiger städtischer Honoratioren war. Diese Gremien entstanden im November und Dezember 1918 in vielen deutschen Städten und bezeichneten sich in Anlehnung an die Arbeiter- und Soldatenräte meist selbst als „Räte“. (...)
Im Frühjahr 1919 spielten die Bürgerräte in vielen Städten und Gemeinden – durch Aussendung von bestellten „Hilferufen“, Aufstellung von Verhaftungslisten und zum Teil auch selbständiges bewaffnetes Vorgehen – eine bedeutende Rolle bei der Zerschlagung der Arbeiterräte. (...) |
Skeptiker hat folgendes geschrieben: | ||
Seinerzeit redete Willy Brandt ja schon von "Mehr Demokratie wagen!". Ich würde sagen, wenn das keine leere Phrase sein soll, dann gilt: Mitreden ist gut, gemeinsam bedürfnisorientiert Neues konzipieren ist besser. Es gibt eine bekannte "Falle der Mitbestimmung", etwa an solchen Beispielen wie Stuttgart 21, wo ausgewählte Bürger mitreden konnten. Was sie nicht durften: Gänzlich eigene Konzepte entwickeln und dann deren Umsetzung bestimmen. Sondern Grundlage waren immer Konzepte, die schon da waren, an denen hier und da etwas herum radiert wurde, aber mehr nicht. Was auch nicht auf der Tagesordnung stand war die Frage, ob überhaupt so ein Projekt umgesetzt wird. Natürlich gab es dann im Zuge von Schlichtungen und Kompromissen eine Einigung, wodurch Stuttgart 21 demokratisch legitimiert sein soll. Aber das ist natürlich ein sehr beschränkter Begriff von Demokratie und Mitbestimmung, der hier durch die Hintertür kommt. |
vrolijke hat folgendes geschrieben: | ||
Und wie immer üblich, haben sich nur die Gegner engagiert. Als es dann zur Abstimmung kam, haben sie krachend verloren. Das wollten sie allerdings nicht glauben, und demonstrieren bis heute. |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: | ||||
Ja, und in der DDR haben sich auch immer alle über die Listen beschwert, aber am Ende ist die Liste doch jedes Mal gewählt worden. |
vrolijke hat folgendes geschrieben: |
Es standen 2 Möglichkeiten zur Auswahl. |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: | ||
In der DDR standen auch immer zwei Möglichkeiten zur Auswahl: Liste annehmen und Liste ablehnen. Der Bevölkerung eine schlechte Wahl schmackhaft zu machen, indem man ihr als Alternativen nur noch schlechtere zur Auswahl stellt, ist der älteste Trick in the book. |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: | ||
In der DDR standen auch immer zwei Möglichkeiten zur Auswahl: Liste annehmen und Liste ablehnen. Der Bevölkerung eine schlechte Wahl schmackhaft zu machen, indem man ihr als Alternativen nur noch schlechtere zur Auswahl stellt, ist der älteste Trick in the book. |
tillich (epigonal) hat folgendes geschrieben: | ||||
Hättest du an der Abstimmung an Stuttgart 21 konkretere Kritik? Mit gefällt das Ergebnis ja auch nicht, aber mE war das eine demokratische Abstimmung (un dein DDR-Vergleich unter aller Kanone). Problematisch war allerdings, dass es nicht früher eine Abstimmung gab, aber das ist mMn auch alles. |
Skeptiker hat folgendes geschrieben: | ||
Noch ein Wort zur Wortherkunft von Bürgerräten. Der Begriff wurde in Deutschland erstmals für den "Reichsbürgerrat" verwendet.
Es waren also quasi Gegen-Räte - gegen die eigentliche Rätedemokratie. |
tillich (epigonal) hat folgendes geschrieben: | ||||
Daran wird einer meiner obigen Kritikpunkte gut deutlich: Je nachdem, in welchem Lebensbereich sich die entsprechenden Räte bilden, sind andere Leute ausgeschlossen. In diesem Fall also, wenn sich Arbeiter- und Soldatenräte bilden, diejenigen, die keine Arbeiter oder Soldaten sind (also zB Geschäftsleute und andere Selbstständige, Arbeitnehmer in Kleinbetrieben, Bauern, und schließlich auch Frauen). Dass unter diesen von der Rätedemokratie ausgeschlossenen Leuten sich am schnellsten die organisieren, die vorher politisch beteiligt waren, und opponieren, ist doch völlig erwartbar. Dass sich in der revolutionären Situation, in der die Soldaten sich nicht weiter verheizen lassen wollten und die Arbeiter besonders unter den Kriegsfolgen litten, eben Arbeiter- und Soldatenräte als politische Organisationen formierten und Macht ausübten, ist logisch. Diese aber als "eigentliche" Rätedemokratie zu sehen (und nicht etwa als vorläufige, provisorische, entstehende etc.) fällt mir angesichts dieser Tatsache, dass sie einen in der historischen Situation zwar besonders relevanten, aber zahlenmäßig gar nicht besonders großen Teil der Bevölkerung repräsentierten, ziemlich schwer. Um zu einem stabilen und wirklich demokratischen System zu werden, hätte die Rätedemokratie sich so entwickeln müssen, dass alle Bürger:innen eingebunden sind. Oder eben den Weg zu einer parlamentarischen Demokratie ebnen - was der Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte mit dem Beschluss zur Wahl einer Nationalversammlung auch getan hat. |
vrolijke hat folgendes geschrieben: | ||||||
Ein System, womit sich hauptsächlich Extremmisten durchsetzen können. (und ggf auch werden). Aber das sagte ich bereits. |
tillich (epigonal) hat folgendes geschrieben: | ||||||||
Das wiederum ist mMn zu pauschal und auch empirisch falsch. Und es ist ja auch fraglich, ob "Extremismus" automatisch schlecht ist. Der Begriff ist ja nicht besonders scharf. In den damaligen Arbeiter- und Soldatenräten (bzw. dann auf dem Reicjsrätekongress) haben sich ja eben nicht die Extremisten durchgesetzt, sondern es wurde eine Nationalversammlung und damit der Weg zu einer parlamentarischen Demokratie beschlossen. Und umgekehr haben es in der Weimarer Republik am Ende auch prima die Nazis durchsetzen können (wenn auch nicht durch Mehrheitsgewinnung, sondern Ausnutzung der Schwächen des Systems). |
vrolijke hat folgendes geschrieben: |
Ich habe so den Eindruck, wenn die Wahl nicht so ausgeht, wie du & Co sich das vorstellen, ist die Wahl manipuliert |
tillich (epigonal) hat folgendes geschrieben: |
(un dein DDR-Vergleich unter aller Kanone). |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: | ||
Hä?? Von Wahlmanipulation war hier doch gar keine Rede. Ich habe so den Eindruck, wenn die Gegenseite nicht so argumentiert, wie du dir das vorstellst, dann muss die Gegenseite eben ein ganz anderes Argument gebracht haben als sie tatsächlich gebracht hat, nämlich eines, das dir in den Kram passt. Oder anders gesagt: Dieser Nonstarter qualifiziert sich noch nicht mal als Strohmann. Lies nochmal, was Skeptiker und ich tatsächlich geschrieben haben. |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: | ||||
Ja, und in der DDR haben sich auch immer alle über die Listen beschwert, aber am Ende ist die Liste doch jedes Mal gewählt worden. |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: | ||
In der DDR standen auch immer zwei Möglichkeiten zur Auswahl: Liste annehmen und Liste ablehnen. Der Bevölkerung eine schlechte Wahl schmackhaft zu machen, indem man ihr als Alternativen nur noch schlechtere zur Auswahl stellt, ist der älteste Trick in the book. |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: | ||
Mein Vergleich bezog sich nicht spezifisch auf Stuttgart 21, sondern auf vrolijkes argumentative Legitimationsstrategie. Es ist ja nicht so, als würde damit nicht ein grundsätzlicheres demokratietheoretisches Problem verdeckt. |
vrolijke hat folgendes geschrieben: |
Sorry; aber wir soll man das lesen: |
tillich (epigonal) hat folgendes geschrieben: |
Aber auch dabei gibt es ja denselben unterschied zur DDR, dass dort die Bürger:innen gar keine Vorschläge für Volksentscheide machen konnten. |
Skeptiker hat folgendes geschrieben: |
Es gibt eine bekannte "Falle der Mitbestimmung", etwa an solchen Beispielen wie Stuttgart 21, wo ausgewählte Bürger mitreden konnten. Was sie nicht durften: Gänzlich eigene Konzepte entwickeln und dann deren Umsetzung bestimmen. Sondern Grundlage waren immer Konzepte, die schon da waren, an denen hier und da etwas herum radiert wurde, aber mehr nicht. Was auch nicht auf der Tagesordnung stand war die Frage, ob überhaupt so ein Projekt umgesetzt wird. |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: | ||||
Also stimmt das hier nicht, was Skeptiker geschrieben hatte?
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vrolijke hat folgendes geschrieben: |
Soll man jetzt mit der ganze Nachbarschaft diskutieren, wie die Straße werden soll? In diesem Fall, haben die Gegner wieder mal die größte Klappe. |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: | ||
"Ich habe so den Eindruck, wenn eine solche Wahl nicht so ausgehen würde, wie du & Co. sich das vorstellen", ist eben einfach das Volk zu dumm oder zu stur, um beteiligt zu werden. |
vrolijke hat folgendes geschrieben: |
Im Gegensatz zu dir, war ich 15 Jahr täglich bei Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller unterwegs. Ellenlange Gespräche geführt. |
vrolijke hat folgendes geschrieben: |
Die Studie darf nicht freiwillig sein, sonst melden sich sowieso nicht die, die man erfassen möchte. |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: | ||||
Wa? Bildest du dir ein, dass ich keinen Fuß vor die Tür setze und nie ein Wort mit Menschen spreche? Wie kommst du dazu, dir solche Einbildungen über mein Leben zu machen?
Ach so, na klar, eine unfreiwillige Studie. Wahrscheinlich mit der Pistole an der Schläfe. Wie stellst du dir das bitte vor? |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: |
Also das Argument, dass nicht jeder an wirklich allem beteiligt werden kann und das fast immer auch gar nicht möchte, ist schon richtig, bedarf aber der nötigen Kontextualisierung. Das heißt richtig ist, dass jedes System Mechanismen dafür haben muss, dass sich nicht jeder an allem beteiligen muss, wenn derjenige das nicht möchte, und es trotzdem ausgeschlossen werden muss, dass eine laute Minderheit das Ganze an sich zieht. Das geht aber nicht dadurch, dass man Partizipationsmöglichkeiten beschränkt - denn das bedeutet, von vorne herein vor der Aufgabe zu kapitulieren und gleich von Anfang an die Entscheidungen institutionalisiert in die Hände einer lauten und aktiven Minderheit zu legen, wie auch immer sich diese dann konstituiert. Zudem ist ein solches Argument schlichtweg bodenlos bzw. hat überhaupt keinen möglichen Endpunkt: Jedes derartige Argument gegen eine Ausweitung der Möglichkeiten demokratischer Beteiligung funktioniert ganz grundsätzlich auch als Argument gegen demokratische Beteiligung überhaupt. |
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